1 Kurze Geschichte der Kriegsdienstverweigerung von Mehmet Tarhan
Geschichte ist langweilig. Aber glauben Sie mir,
wenn es dabei um einen Ihrer Freunde geht, dann wird die Geschichte
nicht mehr langweilig.
1.1 Die Festnahme
Mehmet erklärte seine Kriegsdienstverweigerung
2001. Ich werde an dieser Stelle auf die Details seiner Erklärung
nicht eingehen.
Mehmet
wurde am 8. April 2005 in Izmir festgenommen. Er kam nach Izmir
im Auftrag des Verlags, bei dem er arbeitete. Morgens um ca. 05:00
wurde er in dem Hotel, in dem er übernachtete, festgenommen und
wegen Dienstflucht der Militärbehörde Izmir überstellt. Am nächsten
Tag gingen wir, AntimilitaristInnen aus verschiedenen Städten,
ihn aus Hilfe und Solidarität im Militärgefängnis besuchen. Er
schien in guter Verfassung zu sein. Er erzählte uns, dass es nun
für ihn losginge. Am selben Tag wurde Mehmet ins Militärgefängnis
in Sivas überführt. Wir veranstalteten für ihn eine kleine Abschiedsfeier.
Natürlich wurden sofort Solidaritätsinitiativen gegründet, vor
allem in Istanbul. Die internationalen Kampagnen und Verteilung
der Informationen begannen schon am selben Abend. Als Mehmet seiner
militärischen Einheit übergeben wurde, weigerte er sich, wie jeder
Kriegsdienstverweigerer, die Militäruniform anzuziehen, und sofort
bekam er eine Disziplinarstrafe wegen des Beharrens auf
Ungehorsam. An dem bisherigen Ablauf gab es nichts Überraschendes
für uns.
1. 2 Das Gericht und die Folter
Nach drei Wochen fand die erste Gerichtsverhandlung
statt. Als die antimilitaristische Gruppe aus der Türkei waren
auch wir zusammen mit einer internationalen Delegation für den
Gerichtstermin in Sivas. Der Termin wurde leider verschoben und
es wurde entschieden, Mehmet weiterhin gefangen zu halten. Danach
begannen die Misshandlungen und die Folter, mit Zustimmung des
Militärs und Staates. Mit dem Einsatz der Anwälte und durch Presseerklärungen
wurde die juristische Prozedur in Gang gesetzt, ehe die Situation
lebensgefährlich wurde. Die AntimilitaristInnen, die aus verschienen
Städten zum Gerichtstermin nach Sivas kamen, wurden von den Sicherheitsbehörden
mehrmals festgenommen, verprügelt und schikaniert.
Um gegen seine menschenunwürdige Behandlung zu
protestieren, unternahm Mehmet mehrere Hungerstreiks. Den letzten
Hungerstreik begann er am 30. September, um gegen die Maßnahmen
im Gefängnis zu protestieren. Erst als die Gefängnisverwaltung
seine Forderungen akzeptierte, beendete er den Hungerstreik, der
über einen Monat dauerte.
Seit seiner Festnahme in den ersten Apriltagen
ist Mehmet gefangen. Seit er wegen Dienstflucht in polizeiliches
Gewahrsam genommen wurde, ist er gefangen. Er ist immer noch gefangen,
weil er es ablehnte, mit einem Attest als untauglich ausgemustert
und als kranker Homosexueller abgestempelt zu
werden, um sich vor dem Militärdienst zu drücken.
Am dritten Gerichtstermin wurde Mehmet freigesprochen;
unter Berücksichtung seiner bisherigen Haftzeit wurde er entlassen
und anschließend zur Ableistung des Militärdienstes seiner Militäreinheit
überstellt. Als er sich dort wieder weigerte, die Uniform anzuziehen,
wurde er erneut festgenommen und bestraft. Das letzte Gerichtsurteil
lautete vier Jahre Haftstrafe. Dieses Urteil, gegen das Berufung
eingelegt wurde, ist in den vergangenen Tagen von dem militärischen
Revisionsgericht aufgehoben worden. Nun wird Mehmet wieder vor
Gericht gestellt, allerdings muss er die zweite Haftstrafe wegen
Befehlsverweigerung zwar nicht als Verurteilter, aber als Gefangener
zu Ende absitzen.
Ich hoffe, ich konnte Euch einigermaßen verständlich machen: Selbst
wenn Mehmet freigesprochen wird, wird er wegen Befehlsverweigerung
aufs Neue festgenommen, und das kann sich in dieser Weise bis
in alle Ewigkeit wiederholen. Auch in Israel und Spanien ist das
gleiche mehrere Male geschehen. Obwohl jemand, der einen Diebstahl
begeht, für diese Straftat nur ein Mal bestraft wird, wird Mehmet
für dieselbe Tat mehrmals bestraft, auch wenn seine Tat die Moral
nicht verletzt. Deshalb wurde sein Fall von War Resisters’ International
(WRI) der Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen gegen willkürliche
Festnahme vorgestellt, so wie der Fall von Osman Murat Ülke. Wir
erwarten auch eine ähnliche Entscheidung von der Arbeitsgruppe.
Ich persönlich erhoffe mir, juristische gesehen, nicht viel von
einer solchen Entscheidung. Denn die Entscheidungen der AG der
Vereinten Nationen können höchsten die Verbindlichkeit einer Empfehlung
haben.
1.3 Die Geschichte der Bewegung und Mehmet
1.3.1 Die politischen und theoretischen Grundlagen der Bewegung:
Die ersten Anzeichen
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kriegsdienstverweigerung
in der Türkei eine 15jährige Geschichte hat. Die jahrelang ignorierte
Kriegsdienstverweigerungsbewegung kam durch den Prozess gegen
Osman Murat Ülke in Schwung und wurde dann besonders durch die
Aktivitäten der Antimilitaristischen Initiative Istanbul verstärkt.
In Zahlen ausgedrückt gab es in den ersten zehn Jahren, von 1990
bis 2000, 13 öffentlich bekannte Kriegsdienstverweigerer in der
Türkei. In den fünf Jahren nach 2000 erklärten noch etwa 50 Personen
öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung. Zu diesem Anstieg leistete
sicher der zunehmende Rückzug des Militärs aus dem zivilen Bereich
in der Türkei einen großen Beitrag. Man darf aber dabei auch den
Golfkrieg, der in unmittelbarer Nähe der Türkei geschah, und die
langen Jahre der Junta nicht außer Acht lassen.
1.3.2 2000er Jahre: Die erstarkende Bewegung
und die wachsende Unterstützung
Besonders ab den 2000er Jahren stieg die Zahl
der Verweigerer fast auf 60 an, und jährlich erklären ca. 15 Verweigerer
ihre Kriegsdienstverweigerung. Die zunehmende Zahl der Verweigerer
und die sozial-politische Einfluss der Bewegung auf die Gesellschaft
verliehen der Bewegung einen dynamischen Zug. Deshalb nahm auch
das gesellschaftliche Schweigen über die Bewegung und den Begriff
‚Kriegsdienstverweigerung’ zeitgleich und systematisch zu. Die
Pressezensur, die politische Zensur sowie die systematische Nichtbeachtung
hinderten die Bewegung daran, die Menschen zu erreichen und mit
mehr Aktionen präsent zu werden. Nach der Stimmung, die gegen
die Bewegung gemacht wurde, waren die Aktionen für die Aktiven
selbst riskant, und ihre Ziele waren ganz und gar nicht realistisch.
Trotzdem gelang es der Bewegung, im Vergleich zu den 90ziger Jahren,
in einem schnelleren Tempo ihren Weg zu gehen. Mit den Straßenaktionen,
mit der Beteilung am 1. Mai, mit Internetseiten und –foren versuchte
die Bewegung, die verhinderte Kommunikation mit der Gesellschaft
wieder in Gang zu bringen, und genießt denn auch nun eine relative
hohe Bekanntheit und eine zunehmende rechtliche und gesellschaftliche
Unterstützung.
1.3.3 Die Ziele und Aktivitäten der Bewegung
Die Ziele einer breiten Bewegung kann ich alleine
nicht objektiv beschreiben. Aber der wichtigste Punkt, der betont
werden muss, ist, dass die Bewegung generell nicht auf die Einführung
der Möglichkeit des Zivildienstes anstelle des Militärdienstes
hinarbeitet. Die komplette Abschaffung der Wehrpflicht und der
Armee kann als ihr vorrangigstes Ziel bezeichnet werden. Sicher
hatte in jenen Jahren, deren Zeuge ich wurde, die Verbreitung
der Bewegung die oberste Priorität. Solidarität mit den gefangenen
Verweigerern, juristische Unterstützung, Pflege der Internetdarstellung,
Teilnahme an allgemeinen sozial-politischen Aktionen (Antikriegs-
und 1. Mai-Aktionen) sind die wichtigsten Beispiele. Darüber hinaus
kreierte die Bewegung ihre eigenen Aktivitäten: Militourismus,
Fest der Kriegsdienstverweigerer und Reistag-Aktion usw.
1.3.4 Mehmet und die Bewegung
Mehmet ist ein Anarchist, der intensiv und aktiv
in die oben angeführten Aktivitäten und KAOS GL, Organisation
für die Rechte von Gays und Lesben, involviert ist. Er ist auch
Kriegsdienstverweigerer. Er beteiligte sich an den meisten der
aufgeführten Aktivitäten und auch an ihrer Organisierung. Seine
Person war bereits politisch bekannt. Ich persönlich glaube allerdings
nicht, dass dies mit seiner Festnahme in einen unmittelbaren Zusammenhang
steht. Mehmet wurde zufällig gewählt, aber diesmal hatten sie
den falschen getroffen. Denn im Gegensatz zu der Erwartung und
dem Wunsch des Staates fand sich Mehmet mit einem ‚Untauglichkeitsattest’
nicht ab und lehnte es sogar ab. In dem Militärkrankenhaus, zu
dem er mit Gewalt überführt wurde, wurde er als tauglich eingestuft.
1.3.5 Die Bewegung und der Staat
Militärdienst ist Pflicht in der Türkei. Bevor
die Türkei dem diplomatischen und gesetzlichen Druck der Europäischen
Union nachgab, d.h. die Meinungsfreiheit faktisch viel eingeschränkter
war, stellte die Kritik am Militär eine Straftat dar, für die
schwere Strafen vorgesehen waren.
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu fordern, militärische
Ausgaben zu kritisieren, die Verkürzung des Militärdienstes oder
den Freikauf zu fordern, bildet nun keine Straftat mehr. Diese
aber in die Praxis umzusetzen, für diese Forderungen -gewaltfrei
- zu demonstrieren, wird de facto verhindert.
Die Kriegsdienstverweigerungsbewegung wurde bislang
hauptsächlich von AnarchistInnen und AntimilitaristInnen getragen.
Die Bewegung führte bislang bewusst nur gewaltfreie Aktionen durch
und bevorzugte eine horizontale Organisierung ohne Hierarchie.
Das alles war für den Staat natürlich neu. Am Anfang wurde die
Bewegung nicht sehr ernst genommen. Durch das früher geltende
und schon von der Junta erlassene Vereinsgesetz wurde beispielsweise
der Verein der KriegsgegnerInnen Izmir mehrmals geschlossen. In
ähnlicher Weise wurden die Programmmacher aus dem Fernsehen und
die Journalisten, die das Militär kritisierten, zu hohen Geldstrafen
und sogar zu Haftstrafen verurteilt.
Das ist nur die vordergründige rechtlichte Seite
der Sache. Die Maßnahmen gegen die Bewegung waren in der Praxis
immer strenger und repressiver: Die Aktionen wurden jedes Mal
von der Polizei, dem Militär oder der Gendarmerie mit Videokameras
aufgezeichnet, die AktivistInnen wurden abgehört, und dadurch
wurde ein Druckmittel geschaffen. Das darf aber nicht missverstanden
werden: Viele oppositionelle Gruppen in der Türkei sind dabei
einer unvergleichlich strengeren Unterdrückung und Gewalt ausgesetzt.
Die einfachste Repressionsmethode, die ich selbst
miterlebte, war die zwar nicht rechtliche Verhinderung aber de
facto Lahmlegung einer Aktion durch ein zwei- oder dreifaches
Polizei- oder Militäraufgebot. Der härteste Eingriff ist die Gewaltanwendung
und die gewaltsame Abführung der AktivistInnen. Ich möchte noch
mal darauf hinweisen, dass diese Gewalt sich nicht nur gegen die
AntimilitaristInnen, sondern gegen alle Oppositionelle, manchmal
sogar gegen die politische Rechte richtet. In der jetzigen Phase
kann also nicht von einer organisierten Staatsgewalt die Rede
sein, die lediglich auf die antimilitaristische Bewegung abzielt.
Aber die inhaftierten Verweigerer, so auch Mehmet,
waren Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt, weil sie politische
Gefangene waren. Weil sie die Institutionen selbst, in der sie
sich befinden, ablehnen, erleben sie mehr Unterdrückung: die bewusste
Verweigerung des Hofgangs und der alltäglichen Bedürfnisse (Zeitung
etc.), das willkürliche Besuchverbot oder das Verbot des Briefempfangs
und des Telefonierens, die Aufwiegelung anderer Gefangene gegen
sie usw. Wie im Fall von Mehmet kann auch noch die koordinierte
Schikane durch die anderen Insassen dazu kommen. Derartige Rechtsverletzungen
sind schwer zu registrieren. Deshalb ist es meist sehr schwierig,
dagegen etwas zu unternehmen.
Aber diese Unterdrückung ohne gesetzliche Grundlage ließ manchmal
dank der bürgerlichen Gesellschaft und internationaler Solidarität
nach und verschwand. Besonders zu den Zeiten der Hungerstreiks
wurde das oft beobachtet.
1.3.6 Die momentane Lage der Kriegsdienstverweigerer
in der Türkei
Aus juristischer Sicht sind die Kriegsdienstverweigerer
dienst- oder fahnenflüchtig. Sobald man ihnen habhaft wird, müssen
sie sogleich zur Rekrutierung dem Militär überstellt werden. Sie
müssen eventuell auch eine zusätzliche Strafe absitzen, weil sie
sich bis dahin versteckt gehalten haben.
Der Status eines Wehrpflichtigen kommt bei den
polizeilichen Routinekontrollen oder überall zu Tage, wo man durch
das Sieb des Staates hindurch muss. Denn für alle amtlich-bürokratischen
Angelegenheiten wird ein und selbe Datenbank benutzt, und da ist
auch der Wehrpflichtstatus vermerkt.
Die Kriegsdienstverweigerer können zum Beispiel
keine vom Staat angebotene Stelle annehmen, weil sie gleich festgenommen
würden. Sie können nicht ins Ausland reisen, denn sie würden bei
der Passkontrolle festgenommen und sofort zur Rekrutierungsbehörde
überführt.
Was tun dann die Verweigerer? Entweder gehen
sie einer selbständigen Beschäftigung nach und erledigen die Finanzführung
unter falschen Namen und mit Hilfe von Freunden, die kein Problem
mit dem Militärdienst haben; oder sie müssen arbeitslos werden.
Auch wenn sie es verdienen, werden sie nirgendwo angestellt.
Dies ist, gelinde gesagt, Ausgrenzung und eine Verletzung der
Menschenrechte.
1.4 Homosexualität, Mehmet und die Armee
Weil seine Homosexualität durch die Presse ging,
wurde Mehmet am Anfang im Militärkrankenhaus mit Gewalt einer
Untersuchung unterzogen. Die männliche Armee will Männersoldaten;
die Homosexuellen sind als Soldat unerwünscht, denn sie sind untauglich
(1).
Der Untauglichkeitsbescheid wird bekanntlich im Militärkrankenhaus
nach einer menschenunwürdigen Behandlung ausgestellt. Die Bedeutung
von Mehmets Haltung zeigt sich hierin. Denn er könnte sich ausmustern
lassen und hätte dann den Militärdienst ein für alle Mal hinter
sich. Das wäre aber keine politische und antimilitaristische Aktion.
Mehmet hat sich für den schwierigen Weg entschieden und Widerstand
geleistet. Denn er hat seine sogenannte Untauglichkeit als das
Desaster des Militarismus betrachtet und dem widerstanden.
1. 5 Internationale Unterstützung
Die internationale Solidarität hat zu der Kriegsdienstverweigerungsbewegung
in der Türkei immer einen großen Beitrag geleistet. Sowohl mit
ihrer finanziellen Unterstützung wie auch durch den Druck der
internationalen Öffentlichkeit hat sie in einem nicht zu unterschätzenden
Maß zu der Überwindung vieler Handikaps beigetragen.
Die Aktivitäten wie die diplomatischen Unternehmungen oder diese
Veranstaltung hier sind die ersten Beispiele, die mir einfallen.
Auch die Protestkundgebungen vor den türkischen Konsulaten und
massenhafte Briefaktionen dürfen nicht vergessen werden.
Ein paar internationale Organisationen, die die internationale
Unterstützung tragen, seien hier erwähnt:
War Resisters International (WRI)
WRI hat in ihrer Webdarstellung zwei Sonderseiten für die Kriegsdienstverweigerer
in der Türkei:
Auf Deutsch: www.wri-org/co/turkcampaign-de.htm
Auf Englisch: www.wri-org/co/turkcampaign-en.htm
Amnesty International (ai)
ai hat gemeinsam mit der WRI Aktionen angekündigt.
Das Europäische Parlament
Infolge der Lobbyarbeit diverser antimilitaristischer Organisationen
trug die Gruppe der Grünen den Fall von Mehmet Tarhan in das Europäische
Parlament. Viele Abgeordnete von den Grünen schrieben an die türkische
Botschaft, um ihre Soge um Mehmet Tarhan zum Ausdruck zu bringen.
Und zahlreiche lokale Gruppen in Deutschland,
Spanien, Italien, den USA usw.
1. 6 Die Adressen für Ihre Solidaritäts-
und Protestbriefe
Die Anschrift für die Postkarte oder Briefe:
Mehmet Tarhan, 5. Piyade Eðitim Tugayý Askeri Cezaevi Müdürlüðü,
Sivas TÜRKÝYE
Tel.: +90 – 346 - 224 63 06 /+90 – 346 - 223 99 31 / +90 – 346
- 225 31 45
Fax: +90 – 346 - 225 39 15
1.7 Informationen zu den Kampagnen
Für die internationalen Kampagnen:
Englisch www.wri-org/co/cases/tarhan-en.htm
Deutsch www.wri-org/co/turkcampaign-de.htm
Türkisch www.savaskarsitlari.org/mehmettarhan
www.mehmettarhan.com
2 Die Zustände des Militarismus
Die militaristischen Zustände in der Türkei lassen
sich endlos aufzählen. Aber die Unantastbarkeit des Militärs muss
bei allem in erster Linie betont werden. Das Militär ist unantastbar,
aber was bedeutet das?
Armee als Staatsgründer
Die moderne Türkei wurde nach einem Befreiungskrieg gegründet,
der auf den Ersten Weltkrieg folgte. Wie in jedem Krieg kamen
in diesem auch viele Massaker vor. Es gab viele Schwierigkeiten.
Für das Fortbestehen der Armee- und Staatselite mussten diese
Schwierigkeiten überwunden werden. Dies führte zu einem politischen
Militarismus. Daran ist nichts besonderes, was nur die Türkei
beträfe. In Spanien oder Italien kam ähnliches vor. Was türkeispezifisch
ist, dass die Militärelite auch die Staatsgründer und Staatselite
war.
Wenn auch im 19. Jahrhundert die damaligen Intellektuellen die
Ideen wie Nationalismus, Unabhängigkeit und ‚Freiheit’ in Anatolien
zu verbreiten versuchten, fanden all diese Ideen in der Bevölkerung
keine Aufnahme und konnten die Bevölkerung nicht in Bewegung setzen.
Dem Befreiungskrieg fehlte also sein überzeugtes Volk. Das Militär
musste diese Lücke schließen und handelte trotz dem Volk für das
Volk. Die Armee verhielt sich wie eine bürgerliche Institution
und setzte öfters gnadenlos seinen Gewaltapparat ein, um die Idee
der Unabhängigkeit zu propagieren. Folglich bedeutete Verrat an
der Armee Verrat an dem Staat, und dies bedeutete Verrat am Volk.
Armee als Gründer der modernen Gesellschaft
Um die Gesellschaft, die kriegsmüde war, zu einer modernen zu
verwandeln, wurde wieder dieselbe Politik verfolgt. Die Wehrpflicht,
die älter als der Staat selbst war, wurde als Schule der Nation
heilig erklärt. Die Armee war nicht der Ort, an dem man nur eine
rein militärische Ausbildung bekam. In der Armee wurden die jungen
Männer beschnitten und alphabetisiert. Wie ein soziales Rotes
Kreuz verhalf die Armee den Dörfern zum Wachstum. Auch in der
Wirtschaft trug sie mit ihrer Holding (OYAK - Armeesolidaritätsfonds)
zu der Kapitalakkumulation und Entwicklung der Industrie bei.
OYAK mutierte später zu einer der größten Holdings der Türkei.
OYAK ist die einzige Holding der Türkei, der es vor ein paar Jahren
gelang, die schwere Wirtschaftskrise, die das Land mit hoher Inflation
erschütterte, mit Gewinn zu überstehen, dank der enormen Privilegien
wie billige Arbeitskraft, Soldatenarbeit, leichtes Marketing,
dauerhafter Verkauf der Waren und Dienstleistungen an die Armee
und den Staat...
Es ist vielleicht nicht besonders interessant, dass das Militär
in den Jahren, in denen es noch keine bürgerliche Gesellschaft
gab, versuchte, vielleicht in guter Absicht, diese Lücke zu schließen.
Allerdings unterband dies nicht nur, gelinde gesagt, die Entwicklung
der bürgerlichen Demokratie. Das Militär fordert auch von der
Gesellschaft den Preis für seine Leistung. Dafür benutzt das Militär
nicht nur die regulären Sicherheitskräfte (Armee, Polizei und
Gendarmerie); es stützt sich auch auf den latenten und manifesten
Faschismus, um unbehindert und legitim in die Innen- und Außenpolitik
einzugreifen.
Armee als Beschützer der Gesellschaft
Wenn von Eingriffen in die Innen- und Außenpolitik die Rede ist,
dürfen wir die primäre Aufgabe des Militärs nicht übergehen: Die
Verteidigung des Landes gegen die eventuellen Angriffe der äußeren
Feinde und der Nachbarländer. Aber welche Länder sind unsere Feinde,
und welche sind unsere Freunde? Um die Gesellschaft im Alarmzustand
zu halten, ist die Wehrpflicht ein unerlässliches Mittel – darüber
sind wir uns wohl alle einig. So befindet sich Griechenland seit
der türkischen militärischen Intervention auf Zypern, seit 30
Jahren, in einer allgemeinen Mobilmachung. Unter diesem Vorwand
wird die juristische Prozedur zur Kriegsdienstverweigerung oft
missachtet.
In der Türkei wird, um die Bevölkerung in einem ständigen Alarmzustand
zu halten, eine Sozialparanoia verbreitet: Die Menschen in der
Türkei, ähnlich wie in Griechenland, glauben, dass ihr Land jederzeit
okkupiert werden könnte und beinahe alle Nachbarländer jeden Moment
angreifen würden. So wird der Militärdienst zu einer glaubwürdigen
Notwendigkeit: Es wird jedes Bürgers Pflicht, sein Land gegen
unendliche Drohungen zu verteidigen.
Das Militär, das die Gesellschaft formt
Der Militarismus ist maskulin und prägt auch die Männlichkeit
nach seiner Vorstellung. Jedes Individuum schulde dem Militär
sein Dasein, für das er bezahlen müsse. Gleichgültig ob reich
oder arm, gebildet oder ungebildet, jeder müsse – auch wegen der
sozialen Gerechtigkeit – diese Schuld bezahlen, wenn er dran ist.
Sind Sie Student, dann nach Ihrem Studium. Sind Sie behindert,
dann müssen Sie in symbolischer Weise nur für einen einzigen Tag,
am Tag der Körperbehinderten, Ihre Aufgabe erfüllen, um auch mal
in den Genuss dieser Ehre zu kommen.
Sonst finden Sie keinen Job. Auch Ihr Chef macht sich wegen der
bevorstehenden Wehrpflicht Sorgen, weil die Arbeit deswegen unterbrochen
wird. Ihre Geliebte will sich mit Ihnen nicht verloben, weil Sie
für eine lange Zeit weg sein werden, oder weil Ihnen dort etwas
zustoßen kann. Die Situation gleicht der Ausgrenzung der schwangeren
Frauen aus dem Arbeitsmarkt; unterschiedliche Ziele, aber eine
ähnliche Diskriminierung...
Man macht endlich die Augen zu und geht zum Militär.
3 Fazit
Als ich diese Zeilen verfasste, traf eine relativ
erfreuliche Nachricht ein: Das militärische Revisionsgericht hat
das Urteil zur vierjährigen Haftstrafe aufgehoben. Nun wird alles
wieder vom Nullpunkt anfangen: Mehmet wird wieder vor Gericht
gestellt, man wird wieder auf seine Entlassung hoffen und dafür
kämpfen.
Dies ist ein sehr gewöhnlicher Anblick des Militarismus in der
Türkei: Der Staat schreibt das Urteil und der Staat streicht es
ebenfalls, bis ihm jemand einen Knüppel zwischen die Beine wirft.
Not:
Das Wort bedeutet im Türkischen auch faul, im Sinne ungenießbar.
Übersetzer